vergiss mein nicht

Mein Großvater bekam die Diagnose Alzheimer, als ich 10 Jahre alt war. Ein Großteil meiner Erinnerungen an ihn und unser Leben in einem drei Generationenhaus sind geprägt von dieser Krankheit des Langsamen Vergessens.

Erst waren es nur Kleinigkeiten, das Datum, eine Telefonnummer, später war es sein gesamtes Leben. Er ging zurück, bis nur noch wenige Erinnerungen da waren und wir spielten mit, denn wir wollten ihn nicht ständig traurig machen, in dem wir ihm von einer Realität erzählten, die er längst vergessen hatte. Er vergaß seine Urenkel, Enkel, Kinder, sogar seine Frau. Eine ganze Weile lang lebte er wieder im Krieg, der ihn sehr traumatisiert hatte, über den er nie sprechen konnte und der sein schlimmes Gesicht nun wieder zeigte. Wir konnten ihn nicht beruhigen, wenn er glaubte, dass es heute Nacht Bombenangriffe geben würde. Immer wieder sagten wir ihm, nein, es gibt keinen Krieg, beruhig dich. Aber er beruhigte sich nie und begriff nicht, das der Krieg längst vorbei war. Deshalb begannen wir irgendwann mitzuspielen. Wir schlossen alle Fensterläden, dimmten das Licht und sagten ihm, seine Mutter, nach der er konstant fragte und die schon seit 30 Jahren Tod war, wäre in Sicherheit. Wir lebten mit ihm im zweiten Weltkrieg, in seiner Kaserne und wir waren seine Kameraden, wie er sagte. Wir, seine Familie. Wir spielten mit, denn so beruhigte er sich am schnellsten und entspannte sich. Später habe ich gelesen, dass es vor einem Demenz-Altersheim irgendwo in Deutschland eine täuschend echte Bushaltestelle gibt, an der aber nie ein Bus ab, sodass sich die Patient*innen dort sammeln und später von ihren Betreuer*innen dort abgeholt werden können.

In dieser Zeit stand er meistens in der Haustür, tagaus-tagein, bei Wind und Wetter, denn er versuchte herauszufinden, wo er war. Unser Haus, das er selbst gebaut hatte, erkannte er nicht mehr wieder und auch alle Häuser herum, sahen nicht mehr aus, wie er sich erinnerte. Oft lief er davon, in Hausschuhen, einmal sogar im Schnee, um irgendein Zeichen zu finden, dass ihn an früher erinnerte und ihm zeigte, wo er sich befand. Dann lief er bis zum Wahrzeichen unserer Stadt, einen Kilometer in Hausschuhen und erinnerte sich. Und dann wusste er nicht mehr, wo er hingehörte und jemand der ihn erkannte brachte ihn nach Hause.

Nach dem Krieg war er irgendwann ganz am Anfang seines Lebens angelangt, er war in seinen Erinnerungen wieder ein Schulkind und fragte uns nach Pausenbrot und seinem Schulranzen. Ich, seine damals Teenager-Enkeltochter, musste ihm zeigen, wie man einen Reißverschluss schließt oder was ein Löffel ist.

Was dieser Mann, der langsam wieder zum Kind wurde, aber nie vergaß war sein Beruf. Der Mann, der damals zu klein war um Zimmermann zu werden und daraufhin Schreiner lernte, vergaß niemals an allem zu rütteln, ob es richtig angebracht war oder Holz zu sammeln oder Schrauben nachzuziehen. Einmal fanden wir einen Hobel in seinem Nachttisch.

Viele Jahre nach seinem Tod fand ich eine MRT Aufnahme seines Kopfes, welches nach seinem Herzinfarkt relativ am Anfang seiner Demenzerkrankung aufgenommen wurde und den Beginn des Vergessens dokumentiert.

 

Vergiss mein nicht
MRT an Nylonfaden
2022